Lehrerinsel

Über uns   |   Newsletter   |   Autor werden   |   Kontakt   

Erinnerungskultur: „Dem Holocaust ein Gesicht geben“

Stolpersteine
Stolpersteine - ©Pixabay/Hans

„There is no present or future – only the past, happening over and over again – now.“ Falls dieses Zitat des amerikanischen Dramatikers Eugene O’Neill stimmt, ist das kollektive Erinnern an Vergangenes die einzige Möglichkeit, mit der Gegenwart vernünftig und angemessen umzugehen. Wieso es wichtig ist, bei einer gelebten Erinnerungskultur jüngere Generationen vor allem an einzelne Schicksale zu erinnern.

Eine Geschichte von vielen

Wenn die Lehrerin Kirstin L. ihrer Klasse ein Bild von Rosa Rosenstein aus dem Jahr 1927 mit Freundinnen in Bad Buckow bei Berlin zeigt, so sehen die Kinder drei junge Frauen, die einen Tag an einem Strand in der Nähe von Berlin genießen. Die Sonne scheint und als Betrachter spürt man fast den feinkörnigen weißen Sand zwischen den Zehen. Die Schülerinnen und Schüler haben jeder ein eigenes Foto zum Thema „Ein schöner Tag“ mitgebracht. Sie arbeiten heraus, wo die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen ihnen und Rosa Rosenstein liegen. Rosa hat in anderen Zeiten gelebt, wie man an ihrem merkwürdigen Badeanzug sieht, aber auch sie hat ihre schönen Tage genossen, sie hatte Freundinnen, sie hatte ein Leben, das im Wesentlichen gar nicht so verschieden war zu unserem Leben heute.

Anschließend sieht die Klasse einen Film über Rosa, der auf der Website von Centropa zu finden ist, einem Verein, der seit dem Jahr 2000 mehr als 1.250 jüdische Lebensgeschichten und knapp 25.000 in Familienfotografien digitalisiert hat und Material zur Erinnerungskultur bietet. Die Schülerinnen und Schüler sehen, dass Rosas Leben durch die Zeit, in der sie lebte, geprägt wurde. Zuerst die Flucht mit der Familie nach Ungarn. Der Ehemann starb im Arbeitslager, Rosa überlebte die letzten Kriegsmonate in einem Versteck in Budapest. Vorher konnte sie ihre Töchter in Sicherheit bringen, indem sie sie zu ihrer Familie nach Palästina schickte. Das Centropa-Video über Rosa ist eines von vielen Videos. „Es ist wichtig, dem Holocaust ein Gesicht zu geben“, bestätigt Kirstin L. Das Schicksal eines Einzelnen zu betrachten, bringt Vergangenes näher und führt Schüler unweigerlich zu der Schlussfolgerung: Das hätte meine Urgroßmutter oder meine Großmutter, ja, das hätte auch ich sein können.

Passende Unterrichtseinheiten für die Sek I + II

Vergangenheit im Wandel

Wir erinnern uns nicht nur als einzelne Menschen an Geschehnisse, sondern auch kollektiv als Gemeinschaft. Dabei ist die kollektive Erinnerung nie nur der Blick zurück in eine fixe und abgeschlossene Vergangenheit. Die Vergangenheit ist nicht statisch, sie verändert sich – in ihren Inhalten und in der Art, wie wir uns daran erinnern. Wie die individuelle ist auch die kollektive Erinnerung untrennbar mit Emotionen verbunden. Je schmerzlicher oder auch schambesetzter diese sind, desto eher werden Ereignisse der Vergangenheit verschwiegen, verdrängt oder verharmlost. So sprachen viele Filmwissenschaftler beispielsweise den heute oft belächelten Erfolg des Heimatfilms in den 50er-Jahren klar der Sehnsucht nach der heilen Welt inmitten eines zerstörten Nachkriegsdeutschlands zu. Die Auseinandersetzung mit dem Erlebten mündete in einem kollektiven Eskapismus.

Die wirtschaftliche Erfolgsgeschichte der BRD überlagerte die emotionalen Folgen des Zweiten Weltkriegs, die eine ganze Generation prägten. Heute ist das Trauma verwachsen und die Auswirkungen dieses traumatischen Ereignisses rücken verstärkt in den Fokus. Vielleicht auch bedingt durch die globalen Fluchtbewegungen und ihre Auswirkungen nimmt man beispielsweise die Konsequenzen von Vertreibungen, die während des Zweiten Weltkriegs und danach stattfanden, wieder deutlicher wahr.

Orte gegen das Vergessen

Muss es immer die „große“ Schulfahrt zur national bekannten Gedenkstätte sein? Und welche Arten von Gedenkstätten gibt es überhaupt? Neben Gedenktagen, die eine Brücke zur Vergangenheit bilden, kann die Verknüpfung der Vergangenheit mit der Gegenwart durch Objekte, aber auch durch Orte geschehen. Erinnerungsstätten für den Holocaust findet man an den unterschiedlichsten Orten. Der „Arbeitskreis der NS-Gedenkstätten und -Erinnerungsorte in NRW e. V.“ etwa nennt Erinnerungsorte wie die Villa ten Hompel in Münster oder die Gedenkstätte Abtei Brauweiler. Die Villa ten Hompel ist das ehemalige Wohnhaus des Zementfabrikanten Rudolf ten Hompel, war Sitz der Ordnungspolizei im Nationalsozialismus und dann in der Bundesrepublik Ort der Entnazifizierung und Dezernat für Wiedergutmachung. Die Gedenkstätte Abtei Brauweiler dokumentiert die Geschehnisse in der ehemaligen Arbeitsanstalt Brauweiler während der Jahre 1933 bis 1945.

Die wohl bekanntesten Orte sind neben dem Holocaust-Mahnmal in Berlin die sogenannten Stolpersteine von Günther Demnig, von denen im Mai 2023 der 100.000ste verlegt wurde. Sie bieten genügend Gelegenheiten, sich mit der NS-Vergangenheit Deutschlands auseinanderzusetzen und liegen in den meisten Städten buchstäblich vor der Tür. Schülerinnen und Schüler werden auch hier an Ort und Stelle mit der Geschichte des Einzelnen, der im Zweifelsfall direkt aus seinem Zuhause abgeholt und abtransportiert wurde, konfrontiert.

Aktualität im Klassenraum

Der Nahost-Konflikt hat Auswirkungen auf die gesamte Welt. Insbesondere Deutschland ist bedingt durch seine Geschichte davon betroffen und so bleiben Diskussionen im Klassenzimmer nicht aus, die teilweise bereits im Grundschulalter starten. Es zeigt sich, dass das Wissen um die Vergangenheit und das Erinnern daran von entscheidender Bedeutung sind, um eine plurale und demokratische Gesellschaft zu erhalten. Die gelebte Erinnerungskultur und das Bewusstsein für Einzelschicksale ist der Grundstein für eine vielschichtige perspektivische Diskussion aktueller Themen.

Weitere Sek II-Ausgaben passend zum Thema

Ähnliche Beiträge

 

Weitere Links

Heike Schiemann
Lehrerinsel-Redaktion

… ist Herzblut-Anglistin und Lektorin für Unterrichtsmaterial im Bergmoser + Höller Verlag. Ihre Fächerschwerpunkte sind neben Englisch und Religion auch Deutsch und Geschichte. In ihrer Freizeit liest sie gern, natürlich überwiegend auf Englisch.

Heike Schiemann

Politik ganz nah dran

✓Aktualität ✓Zusatzmaterial ✓Medienkompetenz
Weitere interessante Beiträge
Medienbildung

Urheberrecht: Vom Recht am (eigenen) Bild

Fast jeder Jugendliche verfügt heutzutage über ein Smartphone mit einer integrierten Kamera, aber wie sieht es mit den Rechten am eigenen Bild aus? Was man als Lehrkraft wissen sollte. Mit Aufgaben für den Medienunterricht.

Weiterlesen »
Aktuelle Ausgaben des Bergmoser + Höller Verlags

Grundschule

Sekundarstufe I

Sekundarstufe II

WordPress Cookie Plugin von Real Cookie Banner